Vor kurzem saß ich am Fluss und meditierte. Und das Leben sprach zu mir. Es hat mich erinnert, wer ich bin. Ich bin die Quelle, der Fluss und das Meer.
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Welt zu erfahren: als Zuschauer oder als Seiender. Letzteres ist in unserer lauten Welt nur wenigen Menschen zugänglich und seltenen mystischen Erfahrungen vorbehalten. Doch in Wahrheit entspricht es dem Urzustand unseres Seins – es ist, wie Leben gemeint ist: Teil-nehmen, mit-schwingen, durch-dringen. Das Leben ist dazu da, sich ihm hinzugeben, nicht dazu, es zu beobachten, zu planen und zu kontrollieren. Eigentlich müsste es heißen „es lebt mich“, nicht „ich lebe“. Genauso wie wir nicht atmen, sondern geatmet werden. Das Leben atmet uns, nicht wir atmen das Leben. Daher brauchen wir auch den Tod nicht fürchten, denn das was unseren Körper belebt, ist ewig und mit allem verbunden. Wir sind das Fließende, nicht das, was das Fließen begrenzt. Wir sind der Atem, der durch ein Kleid aus Raum und Zeit strömt. Das Kleid wird irgendwann abgelegt, aber das Leben dahinter bleibt ewig.
Wenn du draußen am Fluss sitzt und beobachtest, dann gibt es den Fluss und das Fließen. Doch wenn du mit deinem Bewusstsein ins Wasser eintauchst, dann bist du der Fluss und das Fließen zugleich. Du bist ewig. Du bist verbunden mit allem Wasser dieser Erde. Du bist die Quelle, der Fluss und das Meer. Und du bist das Fließen selbst. Wenn du im Fluss bist, bist du dir des Fließens nicht gewahr. Denn Fließen wird durch Zeit und Raum definiert. Zeit und Raum gehören zur Dimension des Beobachters. Wenn du aber der Fluss bist, dann bist du in die Ewigkeit des Augenblicks eingetaucht – frei von Zeit und Raum. Du bist der Seiende. Du bist Nichts und gleichzeitig Alles-was-ist.
In einer wundervollen Sufi-Weisheit heißt es: Die Liebe, der Liebende und der Geliebte sind Eins. Wenn du in der Welt aufgehst, gibt es keine Trennung mehr – kein Subjekt, kein Objekt, keine Aktion – es gibt nur noch EINS-SEIN.
Mein Erlebnis am Fluss hat mich an ein wunderbares Buch erinnert, das ich vor langer Zeit viele Male studiert habe: Vielleicht kennst du den Roman „Siddharta“ von Hermann Hesse – eines meiner Lieblingsbücher als Jugendliche auf der Suche nach dem Sinn des Lebens… ;-). Auch der Protagonist Siddharta wendet sich im Roman nach einer langen Reise auf der Suche nach Erkenntnis dem Fluss als Lehrer zu. Vom Fährmann erfährt er: „(…) ein sehr schöner Fluss, ich liebe ihn über alles. Oft habe ich ihm zugehört, oft in seine Augen gesehen, und immer habe ich von ihm gelernt. Man kann von einem Flusse lernen.“ Siddharta wird nach Erfahrungen der Askese, der Gefolgschaft spiritueller Lehrer und der Flucht in weltliche Sinnesbetäubungen bewusst, dass Weisheit nicht mitgeteilt werden kann, dass Worte, Theorien, Lehren und Denken einen Menschen niemals in die Essenz führen können – einzig die Verbindung mit der Natur, die Stille, das Lauschen und liebende Einswerden mit dem Leben öffnet sein Herz für wahre Erkenntnis. Am Fluss meditierend und lauschend, ohne Ziel und Begierde, erlangt er schließlich Erleuchtung.
Genauso wie ich es am Ufer der Isar erfahren habe, lernt auch Siddharta vom Fluss, dass es keine Zeit gibt: „dass der Fluss überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich und dass es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten der Vergangenheit, nicht den Schatten der Zukunft (…) Nichts war, nichts wird sein; alles ist, alles hat Wesen und Gegenwart.“
Vielleicht inspiriert das auch dich, alles loszulassen was du glaubst zu wissen. Alles, was du je gehört, gelesen, gelernt hast. Dich frei zu machen von Glauben, Konzepten, Religionen, spirituellen Führern, Traditionen, Weisheitslehren und Gedanken – und mutig dein Herz aufzureißen und dich in die pure Erfahrung des Seins zu stürzen. Dich vom Leben atmen zu lassen. Dies ist dein Heilungsweg und dein Weg der Erkenntnis!
Ich wünsche uns allen ein mutiges Herz, so mutig, dass wir das Nichtwissen aushalten können und die Unsicherheit mehr verehren als die Antwort. Dass wir unser Denken, Philosophieren, Worte und Lehren loslassen können und wahrhaft frei und leer werden, auf dass das Licht der Erkenntnis ungefiltert durch uns strahlen kann.
„Wissen kann man mitteilen, Weisheit nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.“
Hermann Hesse, Siddharta
Lokah samastah sukhino bhavantu – Mögen alle Wesen in allen Welten glücklich und frei sein!
In Liebe und Segen,
Deine Christine Samira