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Posts Tagged ‘Kontrolle’

Zum Jahreswechsel ist ein Wort wieder in aller Munde: Loslassen. Alte Gewohnheiten, negative Gefühle, einschränkende Glaubenssätze loslassen, damit das gute Neue Einzug halten kann. „Lass einfach los!“ Wie oft hast du diesen Spruch schon gehört, wenn es dir nicht gut ging, du dich von etwas trennen musstest, oder du dir etwas ganz besonders stark gewünscht hast? Lass einfach los – als ob das so einfach wäre! Fragt man die Absender dieses schlauen Ratschlags, wie das denn gehen soll, erntet man ein Achselzucken und Bemerkungen wie „nimm’s halt nicht so schwer“ oder „einfach nicht mehr dran denken“. Hmmm, der rosarote Elefant lässt grüßen!

In einer Leistungsgesellschaft, in der wir gewohnt sind, mit Anstrengung alles erreichen zu können und in der uns vorgegaukelt wird, wir könnten alles kontrollieren, scheint Loslassen eine der schwersten Übungen zu sein.

Und genau hier liegt der Hund begraben: Der Begriff „loslassen“ impliziert, dass es hier etwas aktiv zu tun oder zu arbeiten und zu erreichen gäbe. Doch Loslassen ist nicht mehr als ein Wimpernschlag, ein Momentum, das nur einen Bruchteil einer Sekunde dauert. Nicht viel Zeit für jemanden, der gewohnt ist, immer aktiv zu sein und etwas zu machen! Genau genommen ist das Loslassen an sich gar nicht greifbar. Was wir ersehnen ist der Zustand des Losgelassen-habens. Und wer losgelassen hat, ist gelassen, oder?

Ich möchte dir zwei Bilder geben, mit denen ich meinen Klienten das Loslassen besser verständlich zu machen versuche:

Loslassen ist wie Einschlafen. Eben noch warst du wach, und dann schläfst du plötzlich. Den kurzen Moment, in dem du eingeschlafen bist, kannst du nicht fassen. Am nächsten Morgen weißt du vielleicht noch, dass du ewig wach gelegen bist und dann wohl doch irgendwann eingeschlafen sein musst. Oder du erinnerst dich, dass du schon weg warst, noch ehe du richtig den Kopf auf dem Kissen abgelegt hattest. Aber der Moment, in dem es geschehen ist, ist dir nicht bewusst. Du kennst den Zustand des Wachseins und den Zustand des Schlafens. Aber dieser winzig kurze Akt des Einschlafens entzieht sich deiner Kontrolle und deiner bewussten Wahrnehmung. Und genauso ist es mit dem Loslassen. Es ist nichts, was du tust, sondern etwas das geschieht, eine Gnade, die dir zu Teil wird. Du weißt, wie es sich vorher angefühlt hat, und du genießt den Zustand danach, aber der Moment des Loslassens ist ein Mysterium. Ein Augenblick der vollkommenen Hingabe, der dich von einer Sekunde auf die andere in einen veränderten Bewusstseinszustand katapultiert.

Wenn du nachts wach im Bett liegst, dann vergisst du, dass sich das Einschlafen deiner Kontrolle entzieht. Du versuchst es zu erzwingen und willst mit aller Gewalt diesen winzigen Augenblick des Umschaltens herbeiführen. Je mehr du dich gegen das Wachsein sträubst und willentlich einzuschlafen versuchst, umso quälender und schwerer wird es. Ist das nicht paradox? Aber du kannst eben ein Momentum, das sich durch tiefste Hingabe auszeichnet, nicht kontrollieren und vom Verstand her beeinflussen. Du kannst diesen Zustand nicht erreichen, du kannst es nur geschehen lassen! Der Schlaf wird häufig auch als „kleiner Tod“ bezeichnet – Nacht für Nacht eine ganz schön radikale Übung im vollkommenen Loslassen! Kein Wunder, dass viele Menschen, die ein Thema mit dem Loslassen haben, auch unter Einschlafproblemen leiden – und oft unter diffusen Ängsten vor dem Tod wie vor dem Leben.

Du kannst einem Menschen ebenso wenig den Rat geben, „einfach loszulassen“, wie du einem Ruhelosen den Rat geben kannst, „einfach einzuschlafen“. Und je mehr Druck in diese Richtung aufgebaut wird, umso weniger funktioniert es…

Ein weiteres Beispiel erlebe ich jeden Tag in der Praxis, wenn ich Schmerzpatienten mit muskulären Verspannungen behandle. Wenn du sehr verspannt bist, dann ist die Verkrampfung so sehr zu deiner zweiten Natur geworden, dass du dir dessen gar nicht mehr bewusst bist und die entsprechenden Bereiche gar nicht mehr willentlich ansteuern und entspannen kannst. Vor allem in den Armen steckt oft ungeheure Spannung, weil wir permanent entweder am Festhalten und Verteidigen oder Abwehren und Kämpfen sind. Ich mache mir oft einen Spaß mit meinen Patienten und hebe im Liegen ihren – vermeintlich entspannten – Arm hoch. Wenn ich loslasse, bleibt der in 90 Prozent der Fälle in der Luft stehen. Ich ergreife dann den Arm wieder, schüttle ihn, und fordere auf, locker zu lassen. Die Patienten entgegnen dann vehement, dass sie doch bereits locker ließen, aber beim nächsten Versuch bleibt der Arm wieder auf wundersame Weise oben. Es ist so viel Spannung im Arm, dass die Betroffenen sich dessen gar nicht mehr bewusst sind, und gar kein Gefühl mehr dafür haben, wie es sich anfühlt, wenn dieser Körperteil entspannt ist. Genau das ist der Fall, wenn es ums Loslassen geht: oft haben wir vollkommen das Gefühl dafür verloren, was uns im Leben eigentlich blockiert, weil bestimmte Gedankenmuster oder Ängste unsere täglichen Begleiter geworden sind. Und wir haben keine Erinnerung mehr daran, wie es sich anfühlt, (los-)ge-lassen zu sein.

Das Loslassen geschieht einfach. Ein kurzes „Umschalten“, das unseren Bewusstseinszustand radikal umswitcht: von einem Zustand der Besessenheit zu einem Gefühl der Gelassenheit. Wir können es nicht erzwingen, aber wir können Voraussetzungen schaffen, die ein vollkommenes Loslassen – und damit tiefe Gelassenheit – sehr wahrscheinlich machen.

loslass

5 Tipps, wie dir Loslassen gelingt:

  1. Nimm deinen Körper und deine Gefühle bewusst wahr, und nimm alles an, was jetzt ist

    Hier sind wir beim Beispiel mit der Muskelspannung. Viele Releasingtechniken im Bereich der Körpertherapie arbeiten mit dem bewussten Aufbau von noch mehr Spannung, um darüber wieder ein Gefühl für den Körper zu entwickeln und aktive Entspannung überhaupt wieder möglich zu machen. Das heißt, der verkrampfte Muskel wird willentlich noch stärker angespannt. So wird dem Betroffenen die Anspannung oft überhaupt erst bewusst. Und nur wenn die Spannung bewusst wahrgenommen wird, kann der Muskel dann auch aktiv und bewusst losgelassen werden.

    Wenn dich also ein Thema in deinem Leben belastet (z.B. Jobsuche, Süchte, unerfüllter Kinderwunsch, Ängste, Partnerschaft usw.), dann hab den Mut, mit Haut und Haaren in die Situation einzutauchen. Spüre, welche unangenehmen Gefühle damit verbunden sind, und nimm deine Körperempfindungen wahr. Geh nicht in Widerstand zu dem, was du loswerden möchtest, sondern tauche tief darin ein. Verstärke deine Muskelanspannung, deine krumme Haltung, deinen zusammengebissenen Kiefer, deine oberflächliche Atmung und all die schweren Gefühle noch, um dir wirklich bewusst zu machen, worum es bei deinem Thema geht. Spüre die Essenz. Die auslösende Situation ist austauschbar. Das worum es geht, sind deine unterdrückten Gefühle, und mit ihnen deine destruktiven Glaubenssätze und verinnerlichten Haltungsmuster.

    Dann fange an, deinen Körper bewusst zu lockern, tief zu atmen, deinen Kopf und Blick aufzurichten, den Kiefer zu entspannen etc. Nun fühlst du vielleicht zum ersten Mal vermeintlich „negative“ Gefühle bei einem entspannten Körper. Wahrscheinlich ist das Ganze schon nicht mehr allzu schlimm. Versuche dennoch, bei deinen Gefühlen zu bleiben. Vergiss die Geschichte dahinter, fühle einfach nur das Gefühl ohne es zu benennen oder zu bewerten. Du wirst feststellen, dass das was sich als „Wut“, „Hass“, „Scham“ oder „Ohnmacht“ gezeigt hat, innerhalb kurzer Zeit zu reiner Energie wird, die du nicht mehr benennen kannst. Dann hast du es transformiert.

    Mache diese Übung wann immer du wieder in dein Drama hinein fällst. Bald wird deine seelische Verkrampfung weichen und an ihre Stelle tiefes Einverstandensein und Gelassenheit treten.

  2. Lass dich vom Leben atmen

    Es gibt sooo viele wunderbare Atemtechniken, die den Boden für vollkommenes Loslassen und tiefe Hingabe bereiten. Nur machen muss man sie… 😉 Meine liebste, die ich schon seit Jahren so praktiziere, und die ich ganz oft bei meinen Tranceinduktionen verwende, ist die Vorstellung, geatmet zu werden. Mache es dir im Sitzen oder Liegen bequem und spüre deinen Atem. Folge dem Fließen der Atemluft durch deine Nase, die Luftröhre, die Bronchien und Lungenflügel. Und wieder zurück. Lass den Atem ganz frei und gleichmäßig fließen, bis tief in den Bauch hinein. Mit jedem Ausatmen lässt du dich tiefer in die Entspannung sinken. Mit jedem Atemzug ein bisschen tiefer. Nimm dir Zeit! Spüre, wie du über den Atem getragen bist vom Leben. Von diesem regelmäßigen ein und aus, auf und ab – wunderbar behütet und ganz sanft gewogen wie ein Baby in den Armen seiner Mutter. Gib dich immer mehr diesem sanften Rhythmus hin, voller Vertrauen. Du bist getragen, du bist sicher! Dann tritt mit jedem Atemzug innerlich ein wenig weiter zurück, gib deinen Willen und alle Kontrolle auf, und erlaube dir, vom Leben ge-atmet zu werden, statt selbst zu atmen. Die bewusste Erfahrung, dass du geatmet wirst, wird dich mit einem Vertrauen, Wohlgefühl und einer Hingabe und Verbundenheit erfüllen, wie du sie vielleicht noch nie erlebt hast. Das Leben liebt dich, es trägt dich. Du kannst ihm voll vertrauen!

    Und damit wären wir schon beim nächsten Punkt:

  3. Schließe Freundschaft mit dem Leben und vertraue, dass alles gut ist, so wie es ist

    Die Gesellschaft hat uns zu Menschen erzogen, die voller Angst und Unsicherheit sind. Wir haben die Verantwortung für unsere Gesundheit, für die Erziehung unserer Kinder, für unseren Besitz, für unser Seelenheil, für das Allgemeinwohl abgegeben und darüber die Verbindung zu unserer Natur, zu unseren Instinkten und intuitiven Kräften verloren. Wir vertrauen unserer eigenen Wahrnehmung, unserem Körper und unserem gesunden Menschenverstand nicht mehr. Wir misstrauen dem Leben, erwarten nichts Gutes und sind in ständiger Angst, dass etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. Übe dich in einer Lebenseinstellung, die das Leben und den Körper wertschätzt und die uns allen innewohnende Körperintelligenz und Liebe anerkennt. Liefere dich nicht irgendwelchen Autoritäten aus, sondern informiere dich selbst. Werde mündig, frag nach, sei kritisch und triff deine eigenen Entscheidungen auf Basis deines gesunden Menschenverstandes und deiner Intuition. Finde wieder Vertrauen ins Leben. Sei dir sicher, dass das Leben dir nichts bringt, was nicht zu deinem Segen und zu deiner Entwicklung bestimmt ist. Dass es dir kein Problem serviert, für dessen Lösung du nicht alle Gaben in dir hättest. Nur wer dem Leben vertraut, wer im Innersten sicher ist, dass es unser Dasein gut mit uns meint, kann wirklich loslassen und sich dem Fluss des Lebens hingeben. Wer am Leben und an der Liebe hinter allem zweifelt, wird schließlich ver-zweifeln.

    Folge immer mehr der Stimme deines Herzens, dann bist du sicher! Die Schwierigkeit loszulassen liegt oft in der Angst begründet, eine falsche Entscheidung zu treffen. Doch im Leben gibt es kein „Falsch“. Es gibt nur Erfahrungen, an denen wir lernen und reifen können. In jedem Moment unseres Lebens haben wir die Wahl, einen neuen Weg einzuschlagen. Also geh einfach los und probier dich aus! Vielleicht kommst du am Ende als neuer Mensch genau da wieder an, wo du gestartet bist, vielleicht aber trägt das Leben dich auch in ganz unerwartete Gefilde. In jedem Fall aber gib die Erwartung auf, dass das Leben zu 100 Prozent kontrollierbar und planbar ist. Schließe Freundschaft mit dem Unerwarteten und Geheimnisvollen!

  4. Wehe wenn sie los-ge-lassen…: Trance-Erfahrungen bzw. Erfahrungen von Kontrollverlust

    Schaffe in deinem Leben Raum für die Erfahrung von Leichtigkeit, Übermut und Unkontrolliertheit. Ein vielfach erprobtes Mittel hierfür sind Rauscherfahrungen. Nun kann man das natürlich niemandem empfehlen, also bitte Finger weg von Alkohol und Drogen! Ohne Zweifel gibt es einen Zusammenhang von Drogenkonsum und verschiedensten Süchten auf der einen Seite und der Zwanghaftigkeit, Reglementierung und Leistungsorientiertheit unserer Gesellschaft auf der anderen Seite. Sich zusammenreißen, der/die Beste sein müssen, kämpfen, Erwartungen erfüllen müssen, nicht auffallen dürfen, sich kontrollieren und verstellen müssen, die eigenen Lebensimpulse unterdrücken – das ist schon für viele Kinder die bittere Realität. Viele Menschen kennen im normalen Leben ohne Einfluss von Rauschdrogen überhaupt keine Erfahrung von Unbeschwertheit, überfließender Lebenslust, Ungehemmtheit und Hingabe. Doch die Erfahrung, Kontrolle und Anspannung loszulassen, steht uns auch auf gesundem Wege zur Verfügung, z.B. in Form von (Trance-)Tanz, Meditation, tantrischer Sexualität oder künstlerischem Schaffen. Probier‘s aus: Leg deine fetzige Lieblingsmusik auf oder lade dir vom Internet Trancetanz- oder Trommelmusik herunter und tanz dir den Teufel aus dem Leib. Vielleicht hast du schon mal eine Flamencovorführung gesehen? Im Flamenco spricht man tatsächlich, wenn der Tänzer, Sänger oder Gitarrist besonders leidenschaftlich in seinem Ausdruck ist und sich selbst in seiner Kunst vollkommen vergisst, vom Duende – einer überirdischen Kraft, einem Dämon gleich, die vom Künstler Besitz ergreift. Wenn die Zuschauer Zeuge des Duende werden, ist das ein ganz besonderer Augenblick, der seine Spuren im Leben eines jeden Anwesenden hinterlässt und einen Blick in die Seele der Welt erlaubt. Also tanze, wie wenn es um dein Leben gehen würde – oder besser: lass dich tanzen. Und singe dazu so laut du kannst. Bei der nächsten Party tanze auf dem Tisch, liebe so leidenschaftlich wie du noch nie geliebt hast, geh nackt im Mondlicht baden, färb dir die Haare blau. Mach ausgelassene, verrückte Dinge, die nur Narren Gottes tun können. Erlebe dich in deiner ursprünglichen, ungefilterten Lebendigkeit und Wildheit, spüre dich, sprenge all deine Begrenzungen und inneren Fesseln. Wenn du dir erlaubst, aus dir heraus zu gehen und zu vergessen, was „man“ tut und was nicht, bist du dem Loslassen ganz nahe!

  5. Übe dich im Loslassen von kleinen Dingen

    Wenn du schon an kleinen Dingen festhältst, wie solltest du dann die großen Themen deines Lebens, Menschen, Orte, Hoffnungen, Gewohnheiten loslassen können? Also übe dich einfach tagtäglich in den kleinen Dingen: Verschenke schöne Sachen aus deinem Besitz, die wirklich einen Wert haben und einem anderen Freude machen. Verschenke oder spende Geld, das du übrig hast, um anderen, die weniger haben, Gutes zu tun. Verschenke deine Zeit, deine Erfahrung, dein Wissen und deine Liebe. Lass die Kontrolle über deinen Partner, deine Kinder oder Kollegen los und vertraue, dass sie „das Richtige“ tun und gut geführt sind. Verzichte darauf, Projekte, Reisen oder Feste bis ins Detail zu planen und sei stattdessen spontan, lass dich treiben und überraschen. Mach im Alltag die Erfahrung, dass das Leben am schönsten ist, wenn es lebendig, immer wieder überraschend, neu und unerwartet ist, und werfe regelmäßig überschüssigen Ballast und Besitz von dir, um frei und leicht zu sein.

    Du bist nackt auf diese Welt gekommen und du wirst sie alleine ohne irgendwelche Besitztümer wieder verlassen. Ein offenes, freies Herz nimmt die Dinge mit offenen Armen an und lässt sie wieder gehen. Es lässt das Leben durch sich strömen und vertraut, dass auf etwas Gutes irgendwann auch wieder etwas neues Gutes folgen wird.

 

Genau das wünsche ich dir fürs neue Jahr und für dein ganzes Leben:

Das Vertrauen, dass es das Leben gut mit dir meint,
die Liebe, großzügig von dem zu geben, was du hast, und
die Offenheit, dich vom Leben immer wieder überraschen zu lassen.

Öffne deine Hände und dein Herz, denn „die Frucht des Loslassens ist die Geburt von etwas Neuem!“ (Meister Eckhart).

Lokah samastah sukhino bhavantu – Mögen alles Wesen in allen Welten glücklich und frei sein!

Deine Christine Samira

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Wenn wir wach durch’s Leben gehen würden, wären wir erstaunt, wie viele Gelegenheiten zur Heilung wir tagtäglich geboten bekommen. Wir sind einfach blind für die Möglichkeiten der Transformation, weil wir nie wirklich bewusst sind, und nie bei uns sind. Wir schlafen – und das mit offenen Augen! Jede einzelne Gefühlsregung, die wir empfinden, könnte uns zur Meditation werden und uns verwandeln. Doch eine komische menschliche Gewohnheit stellt uns hier immer wieder ein Bein: die Projektion.

Projektion heißt nichts anderes, als dass wir die Quelle für unsere Gefühle im Außen suchen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Liebe handelt oder um vermeintlich „negative“ Gefühle wie Wut, Gier und Hass: Der andere macht mich durch sein Verhalten wütend, und der andere ist es auch, der mir Gefühle der Liebe macht. So scheint es auf den ersten Blick. Doch ist das wirklich die Wahrheit?

Es mag sein, dass ein anderer durch sein Verhalten die Wut in dir antriggert, aber es ist und bleibt deine Wut. Wenn du keine Wut in dir hättest, könnte kein Mensch der Welt dich wütend „machen“. Du würdest reines Mitgefühl empfinden oder könntest das Verhalten dieses Menschen vollkommen neutral sehen, aber nein, es macht dich wütend. Wo ist nun die Quelle dieser Wut – in dir oder im anderen? Genauso verhält es sich mit der Liebe. Du siehst deinen Geliebten als die Quelle deiner Liebe. Er ist es, der dieses warme Gefühl in dir verursacht und dein Herz überfließen lässt. Aber ist das tatsächlich so? Nein! Die Tiefe und Wahrhaftigkeit, mit der du liebst, hat viel mehr mir dir selbst zu tun als mit deinem Geliebten. Die Liebe kommt nicht vom anderen, sie ist in DIR! Indem du deinen Geliebten zur Quelle deiner Liebe machst, machst du dich abhängig und verletzlich. Diese Sichtweise macht die Liebe zur Gefahr. Es ist gefährlich, dein Herz zu öffnen und zu lieben, denn wenn der andere sich aus dem Staub macht, dann ist all deine Liebe weg. Dann hat er dich betrogen, hat dir die Liebe gestohlen. Ohne ihn bleibt dir nichts mehr. Wenn du erkennen könntest, dass du selbst die Liebe bist, die du für einen anderen empfindest, dann wäre dir mit einem Mal klar, dass du dich nur selbst verletzen kannst, indem du deine Liebe zurück hältst. Denn wenn du nicht oder nur wenig lieben kannst, dann hat auch das nichts mit dem anderen zu tun, sondern dann bist du es, der sich selbst von der Liebe abschneidet. Je mehr du lieben kannst, umso mehr vergrößert sich die Liebe in DIR, nicht im anderen. Was auch immer passiert, du weißt, dass der andere dir nie etwas wegnehmen kann, die Liebe in dir bleibt.

Wie können nun unsere Gefühle uns zum Weg der Heilung werden? Sie werden zum Weg der Heilung, indem wir unsere Projektionen zurück nehmen und die Emotion transzendieren. Gewöhnlich kennen wir zwei Arten, mit Gefühlen umzugehen: wir verdrängen sie – was auf Dauer sowieso nicht geht, oder wir agieren sie im Außen aus. Im ersten Fall verletzen wir uns selbst, im zweiten Fall verletzen wir andere. Transzendieren bedeutet, über das Gefühl hinaus zu gehen. Und das können wir nur, indem wir wach sind, das Gefühl ganz bewusst wahrnehmen und es bis zu seiner Quelle zurückverfolgen – also bis tief in unser Innerstes.

Wenn du das nächste Mal wütend bist, dann verschwende keine Zeit mehr darauf, dich auf den anderen zu konzentrieren und ihm die Schuld zu geben, sondern dann sei einfach ganz wach und bewusst bei deinem Gefühl. Verfolge seine Spur immer weiter zurück bis in dein Zentrum. Wenn du an der Quelle angekommen bist, wird sich etwas verändern. Die Energie bleibt, aber sie heißt nicht mehr „Wut“ oder „Aggression“, sondern es ist reine, „unschuldige“ Energie. Und versuche dasselbe mit der Liebe. Wenn du für einen Menschen tiefe Liebe spürst, dann projiziere sie nicht nach außen auf den anderen, sondern verfolge sie ebenfalls zurück in dein Innerstes bis an ihren Ursprung. Warte, bis auch aus ihr reine Energie wird, die nicht mehr unterscheidet zwischen Liebe und Nicht-Liebe, sondern die einfach IST. So lebst du mit jedem Tag mehr ein Leben aus deiner inneren Quelle heraus.

Wenn wir den Mut haben, Projektionen und Kontrolle loszulassen, unsere Gefühle wirklich in ihrer ganzen Kraft zu spüren und sie bis an die Quelle zurück zu verfolgen, dann gibt es keine „guten“ und „schlechten“ Gefühle mehr. Jedes Gefühl ist eine Energie, der ein bestimmter Stempel aufgeprägt ist. Zurückgeführt zum Ursprung aber wird sie wieder zu reiner Energie. Destruktiv ist ein Gefühl nur, wenn wir unbewusst, nicht anwesend sind, und dann ist es gleich, ob es sich um Liebe oder um Hass handelt.

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Zur Zeit liegt der Vater einer lieben Freundin von mir im Sterben. Ich denke oft an sie und erinnere mich an den Tod meines eigenen Vaters vor zweieinhalb Jahren. Einen Elternteil loszulassen ist unendlich schwierig. Selbst wenn man schon längst erwachsen ist, ist es, als wenn man plötzlich endgültig Abschied von der Kindheit nehmen müsste, und ganz auf sich allein zurückgeworfen würde. Ein festes Kontinuum im Leben bricht weg, ein Halt und eine Liebe, auf die man sich immer verlassen konnte.

Mein Vater lag zehn Tage mit einer schweren Hirnblutung auf der Intensivstation, bevor er nach zähem Kämpfen und Ringen gehen konnte. Diese zehn Tage gehören mit zu den intensivsten meines Lebens – es war ein Hin-und-her-gerissen-sein zwischen Hoffen und Bangen, Mut und Verzweiflung, Hingabe und Auflehnung, Weinen und Lachen. Ich lebte nur noch von Besuchszeit zu Besuchszeit und war die letzten drei Tage fast ununterbrochen an seinem Sterbebett.

Ich wollte es zuerst nicht akzeptieren, dass er sterben könnte, und habe mit allen Mitteln dagegen anzukämpfen versucht. Ich habe gebetet, unendlich viele Kerzen angezündet, ihm Fernheilungen geschickt, ein Wunder visualisiert, habe ihm im Krankenhaus die Hände aufgelegt, bin in einen Marienwallfahrtsort gefahren und habe Maria und alle Heiligen um ein Wunder angefleht. Ja, sogar einen Kuhhandel habe ich mit denen da oben versucht auszuhandeln, nach dem Motto, wenn ihr meinen Vater wieder gesund macht, dann werde ich…. Ich war verzweifelt: Es durfte doch nicht sein, dass ich als Heilerin meinem eigenen Vater nicht helfen konnte.

Zuerst sah es so aus, als würde sich die Situation stabilisieren, doch dann wurde sein Zustand schlimmer und die wachen Phasen immer weniger, er glitt immer weiter weg. Irgendwann war bei mir der Zeitpunkt gekommen, an dem ich nicht mehr wusste, was richtig war. Ich war einfach nur erschöpft. Wofür sollte ich noch beten? Dass er das Ganze irgendwie überlebt, mit vermutlich schwerwiegenden Folgen, oder dass er loslassen und friedlich sterben kann? Ich, die immer über alles die Kontrolle haben wollte, war plötzlich völlig hilflos. Ich wusste, dass ich nichts weiß. In einem Kirchenlied heißt es, „du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“. Genau das tat ich. Ich ließ mich fallen, so tief wie noch nie zuvor, und dann habe ich sie gespürt, die Kraft, die mich auffing und tröstete. Und plötzlich waren die Worte in mir: „Dein Wille geschehe“. Ich erkannte, dass ich gar nichts wissen muss. Ich durfte mich einer höheren Macht anvertrauen, einer Intelligenz, die so viel mehr überblickt als ich und die genau weiß, was gut und richtig ist. Ab da habe ich meinem Vater nur noch absichtslose Heilbehandlungen geschenkt und gebetet: „Dein Wille geschehe“. Was für eine Last fiel damit von meinen Schultern! Ich spürte plötzlich, was auch immer jetzt passieren würde, es war das Richtige.

Seither weiß ich, welcher Segen in den Worten „dein Wille geschehe“ liegt. Wenn wir unser Ego loslassen, alles Wollen aufgeben und uns dem Größten anvertrauen, dann wird alles gut. Es geschieht dann automatisch das Beste – auch wenn es nicht unbedingt das ist, was wir für das Beste halten. Wir wissen meist nicht einmal etwas über unseren eigenen Seelenplan, wie sollten wir da entscheiden können, was für einen anderen Menschen das Richtige ist?

Ich wünsche uns allen mehr solcher Momente, in denen wir allen Widerstand aufgeben und uns tief in die Hände Gottes fallen lassen können. Meist brechen wir den Fall schon viel zu früh ab aus Angst, dass da doch nichts ist, was uns auffängt, und weil wir unserem begrenzten Intellekt mehr vertrauen als unserer lichtvollen Seelenheimat. Meist bedarf es eben erst größter Verzweiflung und Resignation, ehe wir die Worte „dein Wille geschehe“ aus tiefstem Herzen aussprechen können. Doch in diesem Moment der vollkommenen Hingabe passiert das Wunder.

Und was war mit all den Kerzen, den Gebeten, dem Handauflegen? Alles für die Katz’? Keineswegs! Heute weiß ich, dass sich bei meinem Vater gerade in den letzten leidvollen Tagen seines Lebens noch vieles heilsam ordnen und klären durfte – auch wenn er nicht mehr sprechen konnte und sein Bewusstsein stark eingetrübt war. Ich weiß es, weil es mein Herz mir sagt und weil ich in dem heiligen Moment seines Hinübergehens in seine sich plötzlich öffnenden, leuchtenden Augen schauen durfte. Er hat diese Welt ein großes Stück heiler verlassen, auch wenn sein Körper nicht wieder gesund geworden ist.

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